Eine kleine Geschichte des Hall-Effekts

von Nick Heß (17.09.2021)

Hast du dich schon einmal gefragt, was Metallplatten, gekachelte Klosetts und Metallfedern mit euren Hall-Plugins und Effektgeräten zu tun haben? In analogen Vorzeiten waren Hallgeräte so groß wie ein Schrank und so schwer wie ein Klavier. Wir blicken fast hundert Jahre zurück und beleuchten die Anfänge und die Weiterentwicklung des künstlich erzeugten Raumklanges.


Hallraum TU Dresden

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Nick Heß geht den Dingen gern auf den Grund. Nach einigen Jahren Archäologie- und Musikwissenschafts-Studium findet er seine geistige Heimat schließlich in der Philosophie, in der er gerade seine Master-Arbeit schreibt...

„Der Raum ist das Kleid der Musik. Und somit ist Hall im Prinzip, oder jeder Raum, jede Räumlichkeit essentiell, um einen Klang auszustatten“, so beschreibt der Musiker und Komponist Nils Frahm sein vielleicht wichtigstes Instrument: den Raum und seinen Hall. Von der Mikrofonierung verlassener Abwasserschächte bis zur architektonisch raffinierten Echokammer des Berliner Funkhauses: Stets liegt es ihm am Herzen, sein Schaffen in würdige akustische Raum-Gewänder zu kleiden.

Was für Nils Frahm heute ein selbstverständliches und reich differenziertes Universum der kreativen Entfaltung bietet, schreibt erst seit knapp einem Jahrhundert Musikgeschichte. Selbstverständlich waren Räume und ihr Hall schon lange Zeit Bestandteil musikalischer Gestaltung. So ist zum Beispiel die Kirchenmusik für uns ohne den Kirchenraum mit seinen besonderen akustischen Eigenschaften kaum denkbar. Dieser Beitrag möchte explizit die Geschichte des Studiohalls bzw. den bewussten und experimentellen Umgang mit dem sogenannten Hall-Effekt und seiner fundamentalen Bedeutung für die Musiklandschaft des vergangenen Jahrhunderts herausgreifen.

Toiletten, Kirchen und Armenhäuser

Im April 1947 ging das Mundharmonika-Trio The Harmony Cats um Jerry Murad, der heute besonders für seine einschlägigen Mundharmonika-Schulen bekannt ist, in ein Tonstudio, das heute als eines der renommiertesten Studios weltweit gilt: die Universal Recording Studios.

Von Muddy Waters bis Frank Sinatra verkehrten dort alle, die Rang und Namen in der amerikanischen Musikkultur besaßen. Der Produzent der ersten Single des Trios war niemand Geringerer als Bill Putnam, der Inhaber des Studios, der heute als einer der wegweisenden Pioniere in Sachen Studiotechnik gilt. Abgesehen davon, dass nicht alle geplanten Songs aufgrund des begrenzten Budgets der Musiker fertiggestellt werden konnten, darf die Aufnahme der A-Seite, „Peg o‘ My Heart”, als erster kommerzieller Erfolg unter Einsatz des Hall-Effekts aus einer sogenannten Echokammer genannt werden.

Wie der Wortlaut vermuten lässt, handelt es sich dabei um eine architektonische Einheit – im Fall Bill Putmans eine gekachelte Toilette! – innerhalb der Studio-Räumlichkeiten, in denen ein Echo bzw. Hall erzeugt werden konnte. Die Aufnahmen wurden über einen Lautsprecher in diese Kammer wiedergegeben, um mit einem darin installierten Mikrofon abermals aufgenommen zu werden; diesmal mit dem Klang des Raumes. Die so entstandene Aufnahme der Aufnahme wurde mit den originalen Tapes gemischt und voilà: der Studio-Hall war geboren!

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In den 30er Jahren wurden diese Räumlichkeiten zwar schon in großen Studios wie den Abbey Road Studios verbaut, der breite kommerzielle Einsatz begann allerdings erst in den 50er Jahren. Zuvor herrschte das Dogma einer reinen und hallfreien Aufnahme in den entsprechend gedämmten Aufnahme-Räumen. Im heutigen Studioalltag ist ein Auskommen ohne den Hall-Effekt undenkbar und die Abbey Road Studios vertreiben mittlerweile sogar ein DAW -Plugin, in dem detailgetreu ihre Echokammern mit den aufgestellten Reflexions-Säulen im Heimstudio simuliert werden können.

Nachdem der Trend gesetzt war, erfreute sich der Hall-Effekt einer weltweiten Experimentierfreude. Es entstanden einmalige und bis heute bedeutende Sound-Standards: Die Akustik der Adams-Parkhurst Memorial Presbyterian Church, in die das Columbia 30th Street Studio hineingebaut wurde, welcher der Platte Kind of Blue von Miles Davis ihren unvergesslichen Sound bescherte; oder der einmalige Schlagzeug-Sound von „When The Levee Breaks” von Led Zeppelin, der im Treppenhaus eines der sogenannten Poorhouses, den englischen Armenhäusern, aus dem 17. Jh. entstand. Allen gemeinsam: der Raum als Kleid der Musik.

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Platten, Federn und Chips

In den folgenden Jahrzehnten wurde dann mit verschiedenen Materialien experimentiert, um platzsparende und flexibler einsetzbare Alternativen zu einem echten Raum-Hall zu finden. In den 1950er Jahren brachte die deutsche Firma EMT die sogenannte Hallplatte (englisch: Plate-Hall) auf den Markt. Der Plattenhall funktionierte ähnlich wie ein Lautsprecher: Über eine Spule wurde der Schall auf das ca. 0,5mm dicke Metallblech, ähnlich einer Membran, übertragen und anschließend mit einem oder mehreren Kontaktmikrofonen wieder in ein elektrisches Signal umgewandelt. Diese Platten waren nicht nur groß und schwer (bis zu 4 x 2 Meter und 200kg), sondern aufgrund der verwendeten Materialien – Stahl, Silber, Gold, Aluminium oder Titanium – auch entsprechend teuer.

Das erste Modell der Firma EMT konnte 1957 für schlappe 7.500 Mark erworben werden, was in den 50ern einem kleinen Vermögen gleichkam. Damit war ein solches Gerät aber immer noch günstiger als eine Echokammer. Trotz der hohen Anschaffungskosten setzte sich die Hallplatte weltweit als Standard durch und nahezu sämtliche Hits der 50er bis 70er Jahre, von Louis Armstrong bis Elvis Presley, wurden mit diesem Effekt veredelt. Besonders Solisten profitieren von den typischen Eigenschaften des Plattenhalls: Metalle übertragen den Schall deutlich schneller als Luft, was besonders kurzwelligen Höhen zugutekommt, und der an den Kanten der Platte zurückgeworfene Schall verdichtet sich insgesamt zu einem dichten und warmen Hallsound, was einem Solisten die nötige Bühne und Präsenz im Mix bietet.


Werbung für die Hallplatte von EMT

Nun war es für die meisten Solisten praktisch unmöglich, diesen Effekt aus dem Studio auf die Bühne zu transportieren. Ganz zu schweigen davon, dass kein Studiobetreiber seinen Schützlingen die Geräte freiwillig mitgegeben hätte. Parallel zum stationären Plattenhall wurden kompaktere Hallgeräte für den Bühnen- und Studio-Einsatz entwickelt, die sich bald großer Beliebtheit erfreuten und weltweit durchsetzten. 1959 reichte Laurens Hammond, Erfinder der berühmten gleichnamigen Orgel, das Patent für eine Maschine ein, die rein äußerlich mit einem antiken Schmuckstück verwechselt werden könnte: die Federhall-Maschine.

Dabei griff Hammond auf eine Technik aus der Telefonie zurück, die bereits in den 20er Jahren entwickelt wurde. Gleichzeitiges Senden und Empfangen von Gesprächs-Signalen erzeugte in den immer länger werdenden Überland- und Untersee-Kabeln eine unangenehm laute Rückkopplung. Um diesen Effekt unter Laborbedingungen zu erforschen und eine Lösung zu finden, verwendete man gewickelte Federn, um möglichst lange Kabelstrecken nachzubilden. Die so erzeugten Rückkopplungen, Echos und Nachklänge ließen Hammond aufhorchen. Er kannte die Arbeiten an diesem Problem und suchte seinerseits eine Lösung für seine Orgeln, denen noch ein, seiner Meinung nach, wichtiges klangliches Element fehlte – der Nachhall einer Kirche.

Was andere zu kompensieren suchten, war für Hammond die kompakte und praktische Lösung für seinen Wunsch nach Nachklang. Geboren war der Federhall! Hammond verbaute die Federn in seinen Orgeln und erfand damit ganz nebenbei auch noch den seinerzeit am häufigsten eingesetzten Gitarrensound, den Leo Fender seit den 60er Jahren standardmäßig in seinen Verstärkern verbaute, ohne den der Sound des Surf-Rocks à la Beach Boys nicht denkbar wäre.

Ob Echokammer, Platten- oder Federhall: Allen ist im heutigen Musikbetrieb gemein, dass sie in ihrer analogen Bauweise weitgehend von der Digitalisierung überholt wurden. Die alten Originale sind, im Vergleich zu ihren modernen digitalen Umsetzungen, ebenso störungsanfällig wie unpraktisch geworden. Zudem überwand die Digitalisierung auch die eingeschränkten Möglichkeiten analoger Platten, Federn und Kammern. So ist es etwa dem Blackhole der Firma Eventide, möglich, unendliche Weiten und Hallkaskaden zu erzeugen, die sich samtig und elegant entfalten. Wogegen ehemals analoge Hall-Vorrichtungen maximale Nachklang-Zeiten von gerade fünf Sekunden ermöglichten. Heute ist die Vielfalt an Herstellern von Hall-Geräten und -Plugins beinahe unüberschaubar geworden. Es kann also ein wenig Zeit kosten, sich einen Überblick zu verschaffen und den Wunsch-Hall-Sound für ein Projekt zu finden.

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Résumé – der Zahn der Zeit

Wie bereits zu Beginn erwähnt, gibt es zahlreiche digitale Umsetzungen von analogen Hall-Versionen, die ausschließlich als Plugin für sogenannte DAWs funktionieren. Die große Beliebtheit und die stetig fallenden Preise von Aufnahme-Software (es gibt sogar völlig kostenlose und absolut brauchbare Alternativen zu den großen Anbietern, z. B. BandLab) haben uns in das Zeitalter der Home-Studios und der damit verbundenen Explosion privater Musikproduktionen geführt.

Eine bunte Vielfalt an Programmen und bezahlbare Hardware haben einen gigantischen Markt von Privat-Nutzern erschlossen und gleichzeitig das einstige Privileg der Musikindustrie in greifbare Träume verwandelt. Dabei werden Trends immer schneller gesetzt und digitales Equipment durch immer wieder neue Versionen rapide überholt. Währenddessen feiert die analoge Technik ob ihrer Sound- und Materialqualitäten ein Revival – alte und neue Kleider…

Wir dürfen gespannt bleiben, wohin uns diese Reise noch bringen wird!

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