Hoffnung auf Frieden

Vier Perspektiven in der ukrainischen Popularmusik

von David Rauh (15.03.2022)

In diesem Beitrag wollen wir anhand von vier Songs nachvollziehen, wie ukrainische Musikerinnen und Musiker die Aggressionen der letzten Jahre durch das Nachbarland Russland verarbeiten. So sehr sich die Perspektiven voneinander unterscheiden: Allen gemeinsam ist die Hoffnung auf Frieden.

Konflikte und Kriege werden immer wieder in allen Formen der Kunst behandelt, kommentiert oder verarbeitet – so auch in der Popularmusik. Sie ist häufig ein essenzieller Bestandteil von Protestaktionen, um die politische Einstellung einer Gruppe zusammenzufassen, zu festigen oder zu verbreiten.

Ich stelle vier verschiedene Perspektiven ukrainischer Musiker im Umgang mit dem russisch-ukrainischen Krieg seit 2014 vor. Zwei schauen zurück: Jamala gemahnt an die Geschichte, Jinjer trauern um ihr verlorenes Zuhause. Zwei positionieren sich ganz konkret: Capital Bra lehnt Krieg ab, während Khrystyna Soloviy zur Kampfbereitschaft aufruft.

Vergangenheit und Gegenwart in einem:

Jamala – „1944“

Beim diesjährigen deutschen Eurovision Song Contest-Vorentscheid „Germany 12 Points“ am 4. März ließ die meiste Zeit wenig darauf schließen, dass erst wenige Tage vorher Russland in die Ukraine einmarschiert war. Der ESC will nicht politisch sein, und so lautet eine der Regeln des Wettbewerbs auch: Das Lied oder der Auftritt dürfen keine politische Botschaft enthalten. Nichtsdestotrotz war Russland einen Tag nach Beginn des Angriffskriegs vom diesjährigen ESC ausgeschlossen worden. Als Zeichen der Solidarität trat beim deutschen Vorentscheid die ukrainische Gewinnerin des ESC 2016, Jamala, auf und performte ihr Gewinnerlied „1944“.

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Ich selbst kann mich noch gut an den ESC vor sechs Jahren erinnern: Mehrmals musste überprüft werden, ob der ukrainische Beitrag politische Aussagen enthält. Er hätte sonst umgeschrieben werden müssen. Jamala meinte dazu: „This song really is about my family, my grandmother. I had to write it. It is a memorial song and it is difficult for me to sing it.“

Jamalas (Ur-)Großeltern befanden sich unter den etwa 200.000 deportierten Krimtataren, die im Jahr 1944 unter Josef Stalin ihre Heimat verlassen und unter erschwerten Bedingungen ein neues Leben in Usbekistan anfangen mussten. Der Refrain in krimtatarischer Sprache zitiert zwei Verszeilen aus dem Volkslied „Ey Güzel Qırım“ („Oh, schöne Krim“), das Jamala von ihrer Urgroßmutter kannte: „Ich konnte meine Jugend nicht dort genießen, / weil sie mir meinen Frieden genommen haben.“

Doch kann dieser Song unpolitisch sein, wenn er von der Unterdrückung der Krimtataren handelt? In der heutigen Zeit bilden die Krimtataren die größte Opposition auf der Krim gegenüber Russland, das die Halbinsel seit 2014 besetzt. Natürlich ist sich Jamala dessen bewusst: „Now the Crimean Tatars are on occupied territory. And it is very hard for them. They are under tremendous pressure. Some have disappeared without a trace. And that is terrifying. I would not want to see history repeat itself.“

Nach Jamalas Sieg beim ESC meinten einige, der Song hätte nur gewonnen, um ein politisches Statement in die Welt zu setzen. Die Votings zwischen Jury und Publikum hätten nicht unterschiedlicher sein können (maximale Punktzahl (12) bzw. 10 Punkte von Georgien und Russland im Publikumsvotum; jeweils 0 Punkte von der Jury). Ich aber bin überzeugt davon, dass der Song auch ohne seinen politisch-historischen Kontext eine starke musikalische Wirkung entfaltet: Der Klang des typisch armenischen Doppelrohrblattinstruments Duduk erschafft eine ganz eigene Atmosphäre und die sich steigernde Verzweiflung der Sängerin wird von Strophe zu Strophe spürbarer. Die schwindelerregenden Höhen zum Abschluss sorgen bei mir immer wieder für Gänsehaut.

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Ein persönliches Schicksal

Jinjer – „Home Back“

Die Frontfrau Tatiana Shmayluk der Metal-Band Jinjer thematisiert in dem Lied „Home Back” ihre unmittelbaren Kriegserlebnisse in der Region Donezk im Jahr 2014. „We were just chilling on the grass, eating food and stuff. And we heard this loud sound in the sky – we looked up and saw a jet. And that was that. We just grabbed our stuff and ran home, and we started figuring out how to leave before it was too late.“ Hätten sie und ihre Freunde später reagiert, wären sie den nun folgenden Anschlägen und Kämpfen wohl nicht so schnell entkommen. Sie fanden Schutz in Lwiw.

Zu Beginn des Musikvideos von „Home Back“ sieht man die Band in einem dunklen, nur von flimmernden Bildschirmen erleuchteten Raum spielen. Sobald die Sängerin einsetzt, wechselt die Szenerie und im Hintergrund sieht man fortan Bilder von Luftangriffen und zerstörten Wohngebieten. Schon mit den ersten Textzeilen wird klar, dass wir uns in der Situation dieses ersten Angriffs befinden, den Tatiana Shmayluk und ihre Freunde und Bandkollegen zuerst nicht einordnen konnten: „What is this?! What is this mess?! What's that noise? Is this a death sentence?”, aber sie sehen „terrifying silhouettes rising over the motherland.“

Unfähig zu begreifen, was gerade in ihrer Heimat passiert, stellt sie weitere Fragen, die jedoch sofort von der bitteren Realität beantwortet werden: „Is it a mermaid singing? – No. it's a siren screaming. Is it an angel watching over us? – It's an air-fighter making a fuss.“ Um die immer größer werdende Bedrohung zu unterstreichen, schreit sie die Antworten. Erst jetzt sieht man, dass die Band in einem zerstörten Raum spielt. Die erste Hälfte des Songs endet mit der Benennung des Geschehnisses: Die Sängerin buchstabiert das Wort W-A-R und wie zur Verdeutlichung tauchen die drei Buchstaben groß im Hintergrund auf.

Die jazzig angehauchte Bridge springt in der Zeit nach vorne. Die Schrecknisse des Kriegs werden zum Alltag: Schüsse fallen jederzeit, morgens, nachts („A bullet is an early bird, a midnight owl“). Sie überdecken den Hahnenschrei („Morning greeting of a rooster are replaced with fire in a hole“). Die Menschen sind isoliert und orientierungslos und suchen vielleicht sogar Zuflucht und Beruhigung in Drogen („With a soothing cocktail and the hundredth cigarette“). Denn ihren eigentlichen Zufluchtsort haben sie verloren, wie mit der Rückkehr der Metal-Riffs herausgeschrien wird: „Our beds are cold. As cold as basement floor. This house is not our shelter anymore.“ Die Kameraführung ist nun chaotisch, rot blinkendes Alarmleuchten bestimmt die Farben. Mit der Technik des Growling (tiefes Schreien) wird hervorgehoben, was das Zuhause und welchen Schmerz dessen Verlust bedeutet: „Home is liberty, a place where memories live in prosperity and peace.“ Zum Schluss folgt eine Aufforderung, das Verlorene wiederherzustellen „I came back home so I want my home back. Don't you leave us homeless!“

Bassist Eugene Abdukhanov macht unter dem Video deutlich, wie vehement die Musikgruppe Krieg ablehnt: „Every war is a tragedy and a crime against humanity in my opinion. No matter what your beliefs or ideologies are, nothing justifies taking homes, health and lives of innocent children who inevitably suffer in every military conflict. Imagine hundreds of thousands of refugee children around the globe screaming at once: I want my home back!“

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Moralische Unterstützung:

Khrystyna Soloviy – „Ya nesu myr“

Etwas anderer Meinung ist Khrystyna Soloviy, eine Singer-Songwriterin aus Lwiw. Sie ist der Überzeugung, dass ein Frieden nur nach einem (militärischen) Sieg möglich sei. So kommentiert sie selbst ihren Demo-Song „Ya nesu myr“ („Ich bringe Frieden“), der nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, nämlich am 23. Februar 2022 veröffentlicht wurde. Der Text stammt von ihr und dem Producer Andriy Balan. Die Musikerin singt hier eine Hymne für alle, die mit Waffen für die Ukraine und ihre Rechte kämpfen.

Der Text spielt gezielt mit Metaphern von Wärme und Kälte. Mitten im Winter herrsche eine „Hitze in der Hauptstadt“, also eine aufgrund der aktuellen Lage gereizte und angespannte Stimmung. Denn der Winter bringe Jahr für Jahr den Krieg und die „verfluchten Henker“ mit: Die Aggressionen Russlands fanden häufig im späten Winter oder Frühjahr statt.

Ein weiterer Topos ist der Traum. In der ersten Strophe steht die Stadt Kiew noch für die Verwirklichung der Träume und die Liebe. In der zweiten Strophe sehnt sich das lyrische Ich einfach nur nach einem sommerlichen Bummel durch die Innenstadt oder einem Strandausflug zur Krim. Alle diese „warmen“ Träume werden von der „kalten“ Realität eingeholt: Man müsse sich jetzt kampfbereit machen. Der abschließende Refrain drückt die Hoffnung auf Frieden und den Sieg aus.

Einige Tage später veröffentlichte Khrystyna Soloviy auch eine eigene Version des italienischen Protestlieds „Bella Ciao“. „Ukrayinsʹka lyutʹ“ („Ukrainische Wut“) In diesem Lied reagiert sie auf Putins Angriffskrieg und ruft zu aggressiven Kampfhandlungen auf: „Verdammte Schlächter im Blut wir baden, die in unseres Landes dringen ein“. Auch hier scheint eine mögliche diplomatische Lösung nicht bedacht zu werden.

[Anm.: Die deutsche Übersetzung von „Ukrainische Wut“ stammt von Khrystyna Soloviy selbst.]

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Ein Appell von außen:

Capital Bra – „Kein Krieg in Ukraine“

Wesentlich friedvoller ist Capital Bra (damals noch Capital). Vier Tage nach der Annexion der Krim durch Russland wünschte er sich nichts weiter als „Kein Krieg in Ukraine“, was er im gleichnamigen Song ausdrückt. Nach seiner Geburt in Sibirien in Russland zog die Familie in die ukrainische Stadt Dnipropetrowsk. Lange blieben sie dort nicht, denn im Alter von sieben Jahren zog der kleine Junge zusammen mit seiner Mutter nach Berlin. Bis heute ist Capital Bra ukrainischer Staatsbürger.

In seinem Musikvideo zu „Kein Krieg in Ukraine“ nimmt der Rapper visuell ganz konkret Bezug auf die damaligen Geschehnisse zwischen Russland und der Ukraine. Er steht vor einer leeren Wand und wird immer wieder von eindrucksvollen Bildern des Geschehens und kurzen Clips aus den Nachrichten – teilweise hört man Teile der Berichterstattung aus der Tagesschau – überblendet. Im Verlauf des Songs wird seine persönliche Betroffenheit und innere moralische Zerrissenheit deutlich hör- und spürbar. So beginnt die zweite Strophe: „Ah, und sie reden nicht, sie schicken Militär / Ein Kampf zwischen Gut und Böse, aber wer ist wer?“ Sein Problem sind auch Propaganda und Falschnachrichten: „Doch die da oben haben eigene Absichten / Sie verwirr'n uns mit Nachrichten“. Später heißt es: „Sie lügen in den Medien und ihr fällt drauf rein / Guck, wie zwei Mächte unser Land aufteil'n.“

Dabei sieht er die Machtinteressen der Führungskräfte den Interessen der Bevölkerung diametral gegenüberstehen: „Wir Ukrainer, wir wollten nie mit Russland Streit / Doch die Amis provozieren aus dem Hinterhalt / Politiker, die für alle Menschen reden / Es geht um Geld und Macht, uns geht's um Menschenleben“. Immer wieder betont Capital Bra seine Ablehnung der militärischen Auseinandersetzungen: „Es geht um meine Familie, sie haben's nicht verdient / Sie wollen keinen Streit, sie wollen keinen Krieg“. Oder: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen keinen Terz / Wir hab'n kein starkes Militär, aber ein starkes Herz“. Zurück bleibt am Ende vor allem die eindringlich vorgetragene Frage: „Warum?“

Acht Jahre später, kurz nach dem Beginn des aktuellen Angriffskriegs, unterstreicht Capital Bra mit seinem neuen Song „Stop Wars“, den er zusammen mit Kontra K verfasst hat, noch einmal seine Meinung: „Die gleichen Menschen, nur die Waffen sind verschieden / Vielleicht 'ne andre Flagge, aber die gleiche Sprache / Jeder Ukru, jeder Russe checkt doch, was ich sage / Aber ich kann's nicht verstehen / Zwischen uns noch nie Grenzen gesehen / Aber plötzlich gibt es Grenzen“.

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Wir hoffen auf einen baldigen Frieden.

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