von Holger Slowik (03.06.2020)
Beethoven gilt als ein Komponist mit politisch wachem Bewusstsein. Seine Oper „Fidelio“ erzählt nicht nur von selbstloser Liebe, sondern vor allem auch von Gefangenschaft und Befreiung aus Tyrannenwillkür. Wie Inszenierungen des „Fidelio“ durch 200 Jahre Aufführungsgeschichte stets die politisch aktuellen Ereignisse auf der Bühne reflektiert haben lesen Sie im ersten Beitrag zu unserer Reihe Beethoven 250.
Florestan sitzt als politischer Gefangener im Kerker des korrupten Gouverneurs Pizarro. Leonore, die ihren verschwundenen Gatten in diesem Geheimgefängnis vermutet, gewinnt als Mann verkleidet und unter dem Namen „Fidelio“ das Vertrauen des biederen Kerkermeisters Rocco – und unfreiwillig das Herz von dessen Tochter Marzelline. ...
Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag hatte sich die Musikwelt anders vorgestellt! Nun legen die zur Eindämmung des Corona-Virus ergriffenen Maßnahmen schon seit Wochen auch das kulturelle Leben lahm – betroffen sind auch zahlreiche Beethoven-Konzerte und -Ausstellungen. Das Beethoven-Jubiläumsjahr wurde deshalb ins Jahr 2021 hinein verlängert.
Vor allem in Deutschland sollten die Feierlichkeiten für diese kulturelle Identitätsfigur zu einem nationalen Ereignis werden; die Bundesregierung hat entsprechende finanzielle Prioritäten gesetzt – zu Ungunsten anderer bedeutender Jubilare in diesem Jahr.
Denn neben Beethoven feiern auch seine Zeitgenossen Friedrich Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel ihren 250. Geburtstag; und bei Paul Celan fallen in diesem Jahr sogar der 100. Geburtstag und der 50. Todestag zusammen. Eine solche umfassende Möglichkeit, sich als Land der Dichter, Denker und Musiker in Szene zu setzen bietet sich in Deutschland nur alle 50 Jahre.
Ob man beim letzten großen Beethoven-Jubiläum im Jahr 1970 schon bewusst dabei war oder nicht: Jeder kann sich klarmachen, in welch völlig anderem geschichtlichen und gesellschaftlichen Umfeld die Feiern zum 200. Geburtstag des Komponisten damals stattgefunden haben. Deutschland war geteilt; Beethovens Heimatstadt Bonn war der Regierungssitz der BRD; die ideologische Auseinandersetzung um das „bessere Deutschland“ ließ sich exemplarisch am Umgang mit Beethoven und seinen Werken führen, jener Werke vor allem, die die von der französischen Revolution genährten Ideale der Freiheit, der Brüderlichkeit, des Kampfes gegen jegliche Unterdrückung, der Utopie einer weltumspannenden Humanität zum Inhalt haben: die dritte, fünfte und vor allem neunte Sinfonie, die Missa solemnis und seine einzige Oper Fidelio.
1970 stand Westeuropa zudem am Beginn der gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit dem Jahr 1968 schlagwortartig verbunden sind: eine Abwehrhaltung gegenüber jeglicher Autorität, eine Skepsis hinsichtlich „bürgerlicher“ – auch kultureller – Traditionen; eine Dekonstruktion des (männlichen) Geniekultes des 19. Jahrhunderts.
Diese wenigen Schlaglichter auf das Jahr 1970 – verglichen mit der Situation im Jahr 2020, zwei Generationen später – machen vor allem eine grundlegende Erkenntnis der Geschichtsforschung deutlich, die zu einer, wenn vielleicht auch ernüchternden, Binsenweisheit geworden ist: Alle Fortschritte in der musikwissenschaftlichen Forschung, alle Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis der letzten 50 Jahre, das Abstreifen allen ideologischen Ballastes, der Beethoven im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts aufgebürdet wurde – all das bringt uns nicht etwa dem „wahren“ Beethoven näher, sondern liefert vor allem Erkenntnisse über uns und unsere Gegenwart: Sag mir, wie hast du’s mit Beethoven?
Anhand einiger Probebohrungen in der Aufführungsgeschichte von Beethovens Oper Fidelio soll im Folgenden der Frage, wie das Werk in die jeweilige Zeit hineinwirkte, wie es verstanden, aber auch missbraucht wurde, nachgegangen werden.
Die Dramaturgie des Werks spielt geschickt mit drei verschiedenen Schauplätzen: der heimelig-häuslichen Sphäre in der Wohnung Roccos, der Dunkelheit des Kerkers und dem Sonnenlicht, an das die Gefangenen geführt werden, als Metapher für die Freiheit.
Die Frage, ob Rocco als Mitläufer oder Mittäter dargestellt wird, das Finale des ersten Aktes, in dem die Gefangenen ins Freie geführt werden („O welche Lust! In freier Luft den Athem leicht zu heben“), Florestans Fieberphantasie im dunklen Kerker („In des Lebens Frühlingstagen ist das Glück von mir geflohn“), der Moment der Befreiung Florestans durch Leonore und das Erscheinen des Ministers sowie der abschließende Jubelchor erweisen sich als die Schlüsselmomente des Stücks – und die Knackpunkte jeder Inszenierung.
Eine Woche vor der Uraufführung der Oper Leonore, wie Fidelio in der ersten Fassung hieß, waren die napoleonischen Truppen in Wien einmarschiert. Das Wiener Kulturleben lag weitgehend brach; kaum Wienerinnen und Wiener waren im Publikum, stattdessen fast ausschließlich französische Soldaten. Bei ihnen fiel die deutsch gesungene Oper auf keine positive Resonanz. Im Januar 2020 wurde dieser selten gespielte Ur-Fidelio an der Wiener Staatsoper neu inszeniert.
Am 12. März 1938 wurde mit dem Einmarsch von Wehrmachtstruppen der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich vollzogen. Zu den wenigen Aufführungen an der Wiener Staatsoper in diesen aufgeregten Wochen gehörte eine Galavorstellung des Fidelio zu Ehren von Hermann Göring. Dirigent war Hans Knappertsbusch.
Auch am Stadttheater im weit entfernten Aachen feierte man den „Anschluss“ mit einer Sondervorstellung des Fidelio. Am 20. April, zu Hitlers Geburtstag, führte man die Oper nochmals auf – und unterbrach sie ausgerechnet beim rettenden Auftritt des Ministers für eine jubelnde Huldigung an den „Führer“. Dirigent beider Vorstellungen war der damalige Aachener Generalmusikdirektor Herbert von Karajan.
Für die Festvorstellung zum Geburtstag des Großdeutschen Reiches, vier Jahre nach dem „Anschluss“, wurde an der Wiener Staatsoper wieder Fidelio gespielt. Dirigent war Wilhelm Furtwängler.
Die letzten drei Beispiele stehen stellvertretend für die vielen Fidelio-Aufführungen, die die Freiheitsbotschaft der Oper auf besonders perfide Weise pervertierten. 1945 schrieb Thomas Mann in einem Brief aus dem amerikanischen Exil:
„Wie durfte denn Beethovens Fidelio, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? Es war ein Skandal, dass er nicht verboten war, sondern dass es hochkultivierte Aufführungen davon gab, dass sich Sänger fanden, ihn zu singen, Musiker, ihn zu spielen, ein Publikum, ihm zu lauschen. Denn welchen Stumpfsinn braucht es in Himmlers Deutschland den Fidelio zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen?“
Nach Ende des 2. Weltkriegs wurde die Wiederaufnahme des Opernbetriebs vielerorts mit einer Aufführung des Fidelio gefeiert. So war Beethovens „Befreiungsoper“ ganz im Sinne Thomas Manns endlich zur richtigen Zeit am richtigen Platz.
Nach ihrer Zerstörung im Krieg wurde die wieder aufgebaute Wiener Staatsoper feierlich mit Fidelio wiedereröffnet. Die Wahl von Beethovens „Befreiungsoper“ wurde als besonders passend empfunden, weil zeitgleich die alliierten Siegermächte Österreich verlassen haben und das Land somit endgültig befreit war. Der zeitgenössische Wochenschaubericht vermittelt einen Eindruck von der für heutige Sehgewohnheiten äußerst statischen Inszenierung. Dirigent war der Staatsoperndirektor Karl Böhm.
Es ist eine Illusion, dass eine Opernaufführung – oder Kunst überhaupt – eine Revolution auslösen könnte. Aber wohl selten in der Aufführungsgeschichte des Fidelio fiel die Botschaft dieser Oper auf fruchtbareren Boden und spiegelte besser wider, was in der Wirklichkeit außerhalb des Opernhauses vor sich ging, als die Inszenierung von Christine Mielitz an der Dresdner Semperoper im Herbst 1989. Mutig zeigte das Bühnenbild mit Stacheldraht und Wachturm die Realität an der deutsch-deutschen Grenze – während auf dem Platz vor der Oper die Bevölkerung in Massen für freie Wahlen und Reisefreiheit demonstrierte. Der westdeutsche Schriftsteller Martin Walser war Augenzeuge:
„Als wir eine Stunde vor der Vorstellung von der Grimanstraße zum Theaterplatz einbiegen wollten, stoppte uns ein Polizist. Wir sollten – zu unserer Sicherheit, sagte er – irgendwo an der Elbe einen Parkplatz suchen. Da drinnen sei ‚Randale‘. Es stellte sich heraus, daß das großartig wiederaufgebaute Opernhaus im weiten Umkreis von Polizei geschützt war. Zwischen Postplatz und Theaterplatz war in der Sophienstraße eine Demonstration zwischen zwei Polizeilinien steckengeblieben. 'Leise, leise, haltet euch zurück, ihr seid belauscht von Ohr und Blick.' Dem ersten Auftritt des Chors folgte ein fast den Abend unterbrechender Beifall. Schräg unter uns, in der Staatsloge, wurde auch geklatscht. Ich glaube, Hans Modrow war dabei. Noch einmal eine solche Ovation am Schluß, als die Frauen, gekleidet wie heutige Dresdnerinnen, ihre aus der Haft entlassenen Männer abholen. Am Abend zuvor, dem eigentlichen Premierenabend, soll es genauso gewesen sein. In der Pause konnte man aber nicht aus der Oper hinaus. Die mächtigen Portale waren verschlossen. Wer hinaus mußte, dem wurde aufgemacht mit dem Hinweis, daß er nachher nicht mehr hereinkönne. Die Kunst sollte an und für sich frei sein dürfen. Zu spät. Drinnen und draußen: Frühling im Herbst.“
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YouTube-Inhalte anzeigenNicht an das Happy-End der Oper glaubt der Regisseur Martin Kušej. In seiner Inszenierung an der Staatsoper Stuttgart vollzieht Pizarro entgegen dem Libretto den Mord an Florestan und wird daraufhin von Leonore erschossen. Blutüberströmt singen beide das finale Duett „O namenlose Freude“, dessen ursprünglicher Jubel hier nur Beklemmung auslöst. Die Ideale des Stücks, so die Botschaft, sind auch nach 200 Jahren in unserer Welt noch nicht verwirklicht.
Auf besonders eindrückliche Art und Weise erfahrbar wurde die Beklemmung der Gefängniswelt des Fidelio und die existenzielle Bedeutung von Freiheit bei einer bearbeiteten Inszenierung durch das Gefangenentheater aufBruch der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel in Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern. Erst nach peniblen Sicherheitskontrollen konnte das Publikum der Aufführung beiwohnen – und die die Aufführung tragenden Insassen der JVA trafen zwar nicht alle Töne, verliehen der Botschaft dieser „Befreiungsoper“ aber eine besondere Dringlichkeit und Authentizität.
Die mit Spannung erwartete Neuinszenierung des Fidelio durch den Schauspieler und Oscar-Preisträger Christoph Waltz im Theater an der Wien, dem Ort der Uraufführung, konnte wegen der zur Bekämpfung des Corona-Virus verhängten Maßnahmen nicht mehr stattfinden. Quasi in letzter Minute wurde die Inszenierung am Ende des Probenprozesses für das Fernsehen aufgenommen und im ORF ausgestrahlt: eine „Opernpremiere“ in Zeiten des Corona-Virus.
Wie werden sie auf unsere Gegenwart, die Zeit des Stillstands während der Corona-Pandemie eingehen?
Auch in der momentanen Situation ist die Freiheit jedes einzelnen nicht unerheblich eingeschränkt, die Fragen nach der demokratischen Legitimation der zur Eindämmung der Krise getroffenen politischen Entscheidungen werden lauter, die Dringlichkeit einer solidarischen Gesellschaft wird uns vor Augen geführt.
Umso größer ist die Freude an jedem Zeichen der Hoffnung. Und ganz gewiss werden die nächsten live und vor Publikum gespielten Aufführungen des Fidelio allesamt zu wahren Freudenfesten! „O namenlose Freude!“
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