Letzte Werke – Vier letzte Lieder von Richard Strauss

von Holger Slowik (12.11.2021)

Das letzte Werk eines Komponisten ist immer von einer besonderen Aura umgeben. Ursprung des Mythos vom letzten Werk ist Mozarts Requiem, das er angeblich auf dem Totenbett geschrieben und nicht selbst vollendet hat. Andere Komponisten schreiben ganz bewusst ein ‚letztes Werk‘ als Summe ihres Schaffens. Infiziert vom Mythos vom ‚letzten Werk‘ stellen wir in loser Folge Kompositionen dieses besonderen Genres vor. Den Anfang machen wir mit den Vier letzten Liedern von Richard Strauss.

Ende April 1945, die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Der von Deutschland entfesselte Krieg hat längst das eigene Land erreicht, seine Städte, seine Armee brechen zusammen und liegen in Trümmern. Auch im beschaulichen Oberbayern ist die Welt aus den Fugen geraten und bietet apokalyptische Bilder der Zerstörung und des Leids. Das Konzentrationslager Dachau wird aufgelöst und die Häftlinge auf sogenannten Todesmärschen gen Süden in Richtung einer imaginären ‚Alpenfestung‘ getrieben. In der Nähe des Starnberger Sees beobachtet der Komponist Karl Amadeus Hartmann einen solchen Zug. Aus seiner Erschütterung entsteht unmittelbar eine Komposition für Klavier, der er schlicht das Datum des Ereignisses als Titel gibt: Sonate „27. April 1945“.

Nicht weit davon entfernt schreibt an eben diesem 27. April 1945 der 80-jährige Richard Strauss einen Brief, in seiner Villa in Garmisch. Auch in diesem Ort suchen immer mehr Flüchtlinge Schutz vor den heranrückenden Amerikanern, die Hospitäler sind voller Verwundeter, auch durch Garmisch ziehen Todesmärsche. Wie viel der weltberühmte Komponist von der untergehenden Welt um ihn herum wahrgenommen hat, wissen wir nicht. Sein Brief jedenfalls spricht mit keiner Silbe davon. Für ihn ist eine viel bedeutendere Welt verloren gegangen: das klassische Musikleben.

Abschluss der Musikgeschichte

Seit der Zerstörung der Opernhäuser von Dresden, Wien und München im Bombenhagel ist Strauss’ Leben sinnlos geworden. Die Meisterwerke der europäischen Opernliteratur, vor allem aber seine eigenen, können nicht mehr aufgeführt werden. Im Brief vom 27. April 1945 an den Dirigenten Karl Böhm formuliert Strauss „so eine Art Testament: mein künstlerisches Vermächtnis“.

Strauss entwirft die Idee eines Opernmuseums, in dem die bedeutendsten Werke des Repertoires ständig verfügbar sein sollen, in mustergültigen und definitiven Inszenierungen und Interpretationen, wie Gemälde in einer Galerie. Für neue Werke besteht kein Bedarf mehr. Die europäische Musikgeschichte ist für Strauss abgeschlossen: Sie beginnt nach seinem in diesem Brief formulierten Katalog an Bühnenwerken mit Christoph Willibald Gluck und endet – mit ihm selbst. Seine beiden letzten Werke für das Musiktheater – Die Liebe der Danae und Capriccio – bilden für Strauss die Schlusssteine der Musikgeschichte. Allerletzte Werke sozusagen.

Vor diesem Hintergrund ist es berührend und verstörend zugleich, sich den folgenden Film anzusehen, den amerikanische Soldaten, kurz nach der Einnahme Garmischs, von dem berühmten Komponisten in seinem Garten gedreht haben, Pfingstrosen schneidend und in der Partitur der Liebe der Danae blätternd.

Nachgereichte ‚Handgelenksübungen‘

Richard Strauss, der große Kenner der Antike und des antiken Dramas (seine Opern Salome, Elektra, Die Liebe der Danae zeugen davon), der unzählige Male als Dirigent von Wagners Götterdämmerung das Weltenende heraufbeschworen hat, konnte mit der realen Apokalypse anscheinend nicht umgehen. Statt sich dem Wiederaufbau zu widmen oder sich gar mit der eigenen Verstrickung in die nationalsozialistische Kulturpolitik kritisch auseinanderzusetzen, zog er sich aus dem notleidenden Nachkriegsdeutschland in die Schweiz zurück – und komponierte. Was aber und zu welchem Zweck komponiert man noch, nachdem man gerade selbst das Ende der Musikgeschichte ausgerufen hat? Strauss sprach in seiner lakonischen Art von „Handgelenksübungen, um das vom Taktstock befreite Handgelenk nicht vorzeitig ermüden zu lassen.“

Nachdem er bereits in den letzten Kriegsmonaten mit den Metamorphosen für 23 Solostreicher Beethoven gehuldigt hatte – die unter dem Eindruck seiner zerstörten Heimatstadt München komponierte Trauermusik zitiert den Trauermarsch aus der ‚Eroica‘ –, schreibt er in der ersten Nachkriegszeit ein an Mozart gemahnendes Oboenkonzert. Ein junger amerikanischer Soldat, in Friedenszeiten Oboist, hatte dieses spielerische und hochvirtuose Werk angeregt. Sich der eigenen kompositorischen Wurzeln und Vorbilder nochmals reflektierend zu vergewissern, ist ein Phänomen, das man im Spätwerk vieler Komponisten beobachten kann.

Alle drei letzten Werke in Partitur sind in diesem Artikel vereint:

Richard Strauss – Vier letzte Lieder / Metamorphosen / Oboenkonzert

„Ist dies etwa der Tod?“

Zwischen Mai und September 1948, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Strauss vier Lieder für Sopran und Orchester. Als Textgrundlage wählte er drei Gedichte von Hermann Hesse, dem er in der Schweiz begegnet war, und eines von Joseph von Eichendorff. Nichts deutet darauf hin, dass Strauss selbst die Lieder als Zyklus angelegt hatte, auch der Titel Vier letzte Lieder, unter dem die Werke posthum veröffentlicht wurden, stammt nicht vom Komponisten. Dennoch ist die Zusammenstellung sehr passend: Alle vier Lieder kreisen um die Themen Leben, Abschied und Tod – und zeichnen in der gewählten Reihenfolge den Lauf eines Lebens nach.

Das einleitende Lied, „Frühling“, muss sich erst freikämpfen aus den „dämmrigen Grüften“ des Winters. Der wahrgewordene Traum vom Frühling – „von Licht übergossen“ – kann nicht anders als als „Wunder” wahrgenommen werden: „Es zittert durch all meine Glieder / Deine selige Gegenwart.“ Von dieser „seligen Gegenwart“ kann der 84-jährige Komponist sich kaum mehr trennen, über ganze elf Takte breitet er ihre Vertonung aus.

Im folgenden Lied „September“ zeigt sich die ganze Orchestrationskunst von Richard Strauss, die schon seine frühen Tondichtungen ausgezeichnet hatte. Jetzt muss er aber nicht mehr klanglich auftrumpfen und Helden wie Don Juan musikalisch porträtieren. Alle klangfarblichen Mittel, die ein großes Orchester bereithält, setzt er hier äußerst subtil ein, um die zarten Bilder des Spätsommers, die Hesse in seinem Gedicht entwirft, musikalisch nachzuzeichnen. „Lange noch bei den Rosen / Bleibt er [der Sommer] stehn, sehnt sich nach Ruh“: dieses letzte Blühen der Natur in den späten Rosen lässt auch die Musik von Strauss’ Lied für einen kurzen Moment in sanfte Ekstase geraten – der Komponist des Rosenkavalier wird diese innige Musik des Abschieds nicht ohne Gedanken an seine große, zu diesem Zeitpunkt fast 50 Jahre alte Erfolgsoper niedergeschrieben haben.

„September“ ist Teil von Holger Slowiks persönlicher Musikauswahl zum Sommer fürs Stretta Journal: Wie klingt der Sommer?

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Im dritten Lied, „Beim Schlafengehen“, ist es nicht mehr die Natur, die sich zur Ruhe legt, sondern der Künstler selbst. Das Tagwerk, im übertragenen Sinn das Lebenswerk, ist getan, und „wie ein müdes Kind“ erwartet man die „gestirnte Nacht“. Auch hier ein bemerkenswertes Detail zur Orchestration: Das Blinken der Gestirne illustriert Strauss durch drei hohe Akkorde der Celesta auf die Worte „gestirnte Nacht“. Bevor die Sängerin in der dritten Strophe die „freien Flüge“ der „Seele“ beschwören darf, das „tiefe und tausendfache“ Leben im „Zauberkreis der Nacht“, nimmt eine Violine in einem langen Solo diese Melodie vorweg – wohl einer der schönsten und innigsten Momente in Strauss’ ganzem Werk, und eine der ergreifendsten musikalischen Schilderungen des freien menschlichen Geistes überhaupt.

Im ersten Lied wurden Frühling und Gegenwart beschworen, im zweiten und dritten der Abschied vom Sommer und vom Leben. Im vierten, „Im Abendrot“, geht die Lebenswanderung zu Ende. Kein Auflehnen gegen das unausweichliche Ende findet sich: Die Abendstimmung, die Eichendorff entwirft, kleidet Strauss in eine Musik großer Ruhe. „O weiter, stiller Friede! / So tief im Abendrot. / Wie sind wir wandermüde – / Ist dies etwa der Tod?“ Zu diesen letzten Worten greift Strauss zurück auf eigene, 60 Jahre alte Musik, und zitiert seine Tondichtung Tod und Verklärung.

Es mag heute noch Musikliebhaber geben, für die mit der Musik von Richard Strauss die Musikgeschichte endet, wie er es selbst gesehen hat. Vielleicht hat der alte Strauss, von Tod und Zerstörung umgeben, sich zu wenig sich seiner eigenen Anfänge als der junge und wilde Komponist der Salome und der Elektra erinnert? Wir können froh sein, dass die Musikgeschichte weitergegangen ist und weitergeht. Und dankbar, dass Richard Strauss uns, trotz seiner Resignation, unvergängliche ‚letzte Werke‘ hinterlassen hat.

Nachtrag: Das nun wirklich allerletzte Werk von Richard Strauss erlebte vor wenigen Tagen seine Uraufführung in der Berliner Philharmonie: Besinnung für Chor und Orchester, auf ein Gedicht von Hermann Hesse, konnte Strauss nicht mehr vollenden. Der Komponist Thomas Hennig hat die Komposition anhand der Skizzen vervollständigt.

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