Das Requiem von Joseph Martin Kraus – eine spannende Entdeckung

von Holger Slowik (30.07.2021)

Im Carus-Verlag ist das Requiem von Joseph Martin Kraus in einer Neuausgabe erschienen. Das außergewöhnliche Werk, das in einer schwierigen Lebensphase des Sturm-und-Drang-Komponisten entstand, nehmen wir im Stretta Journal in den Fokus.

Was für ein Schicksalsschlag für einen jungen aufstrebenden Menschen: Das Studium aus finanziellen Gründen unterbrechen und ins Elternhaus zurückkehren zu müssen. So erging es auch dem 19-jährigen Jurastudenten und hochbegabten Komponisten Joseph Martin Kraus. Im Spätherbst 1775 musste er aus der Universitätsstadt Erfurt nach Buchen im Odenwald zurückkehren. Die Situation der Familie war prekär: Der Vater, als kurfürstlicher ‚Amtskeller’ der höchste Verwaltungsbeamte des kleinen Städtchens, hatte aufgrund verschiedener Verleumdungen nicht nur seinen Posten und sein Einkommen, sondern auch sein öffentliches Ansehen verloren.

Ein erzwungenes Sabbatical

Da tat es gut, den ältesten Sohn wieder im Haus zu haben, der sich anscheinend nicht in Sippenhaft nehmen ließ, sondern mit erhobenem Haupt durch das Städtchen schritt und das erzwungene Sabbatjahr in eine Phase erstaunlicher Kreativität umgewandelt hat: mehrere Kompositionen für die Buchener Kirche, Tolon, ein Trauerspiel im Stil des Sturm und Drang, sowie die Vorarbeiten für eine umfangreiche musikästhetische Abhandlung – Etwas von und über Musik – sind in diesem Jahr entstanden. Das zeugt von Neugier und von einem erstaunlich weiten, über die Musik hinausgehenden geistigen Horizont, den Joseph Martin Kraus sich als Schüler zuerst der Buchener Lateinschule, dann vor allem des Mannheimer Jesuitengymnasiums erarbeitet hat.

Seine Lehrer erinnern sich nach seinem frühen Tod an ihn als ihren „besten und geschicktesten Eleven“, der die ihm überlassenen Bücher bereits am nächsten Morgen gelesen zurückbrachte und bei öffentlichen Gedichtvorträgen die Zuhörer nicht nur mit „der richtigen Diktion“, sondern auch mit seinem „Gefühl und Feuer“ hinriss. In Mannheim, einem der innovativsten Zentren des damaligen Musiklebens, begegnete er auch dem Komponisten und Musiktheoretiker Georg Joseph Vogler, der Kraus, dem späteren Kapellmeister am schwedischen Hof, als musikalischer Freigeist und als Weltenbummler zum Vorbild wurde.

Die Kraus-Werkausgabe im Carus-Verlag

Im Carus-Verlag, der seit längerem das Projekt einer Joseph Martin Kraus-Werkausgabe verfolgt und damit der Wiederentdeckung dieser durch viele gewohnte klassische Raster fallenden Musik einen unschätzbaren Dienst erweist, ist nun eine Frucht dieses zwangsweise in Buchen verbrachten Jahres erschienen: das Requiem in d-Moll (Nr. 1 im von Bertil van Boer erstellten Kraus-Werkverzeichnis).

Die Ausgabe ergänzt die bereits greifbaren kirchenmusikalischen Werke von Kraus: das Oratorium Der Tod Jesu, ebenfalls von 1775/76, und ein Stella coeli aus dem Jahr 1783. Als nächste Ausgabe hat Carus das bereits 1773 während des Erfurter Studiums komponierte Miserere angekündigt. Kammermusiker sollten sich vor allem der Streichquartette von Kraus annehmen, die ein ganz eigenständiger Beitrag zu der sich in dieser Zeit formenden Gattung sind.

Überlieferung und Besetzung

Das Requiem von Kraus ist ein so erstaunliches wie rätselhaftes Werk. Es ist unklar, für welchen Anlass es entstand, sonst könnte man eventuell die radikalen Textkürzungen, die Kraus vorgenommen hat, erklären. Im Kyrie fehlt das „Christe eleison“; in der Sequenz fehlen ganze vier Abschnitte: das „Tuba mirum“, „Rex tremendae”, „Recordare” und „Confutatis”; im Offertorium fehlt das „Hostias”.

Bemerkenswert ist auch die Überlieferung: Hätte der schwedische Diplomat Fredrik Samuel Silverstolpe, ein früher Kraus-Enthusiast, das Werk nicht schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts kopiert, wäre das Requiem und die andere frühe Kirchenmusik von Kraus heute verloren. In der Buchener Pfarrkirche St. Oswald hat man nämlich im späten 19. Jahrhundert, neben anderem alten Notenbestand, auch die frühen Handschriften von Kraus entsorgt.

Die Abschrift von Silverstolpe liegt demnach auch der Carus-Edition von Wolfram Enßlin als einzige Quelle zugrunde. Ergänzungen des Herausgebers erscheinen diskret im Notentext, was diese kritische Ausgabe zugleich gut für die musikalische Praxis nutzbar macht. Die Besetzung sieht neben einem gemischten Chor drei Solisten – Sopran, Alt und Bass – vor, die von einem Streichorchester und zwei Hörnern begleitet werden.

Ein unsentimentales Requiem

Kraus beginnt sein Requiem ohne Umschweife: Ohne orchestrales Vorspiel, nur vom Continuo begleitet, deklamiert der Chor das „Requiem aeternam“. Diese Totenmesse trumpft nicht dramatisch auf, schreit ihre Klage nirgends heraus, wird an keiner Stelle sentimental oder verfällt in falsches Pathos. Kraus hat ein Requiem von erstaunlicher Knappheit und Kürze (ca. 25 Minuten) komponiert.

Rhythmisch äußerst konturierte Themen prägen die „Kyrie“-Fuge oder das „Dies irae“-Motiv; lakonische, oft unisono vorgetragene Schlusswendungen beenden die meisten Sätze auf eine fast abrupte Art und Weise. Zeit nimmt sich Kraus dagegen häufig für die Ausbreitung relativ einfacher Tonsatzphänomene wie Sequenzen. Etwa im „Lacrymosa“ oder im „Huic ergo“, um nur zwei Beispiele zu nennen, entstehen auf diese Weise mehrtaktige Klangflächen.

Unterstützt noch durch die wenig farbenreiche Orchestrierung – die zwei Hörner setzen nur gelegentlich Akzente – entsteht stellenweise der Eindruck einer nackten, fast auf ihr Skelett reduzierten Musik. So werden auf ganz unspektakuläre Weise die Ohren der Zuhörer für die ganz erstaunlichen Mittel, mit denen Kraus musikalische Spannung erzeugt, geöffnet.

Zu Beginn des „Quam olim Abrahae“ beispielsweise bleibt man, da der Satz mit einem langen Auftakt beginnt und nach wenigen Takten von einer Generalpause unterbrochen wird, als Hörer erstmal metrisch in der Schwebe: Ist das nun ein Dreier- oder ein Vierertakt? Kaum hat man festen Boden gewonnen, wechseln die Streicher in ihrem Begleitmuster von repetierten Sechzehnteln zu einem punktierten Rhythmus, den sie den weiteren Satz hindurch beibehalten. So wird eine äußerst subtile Spannung aufgebaut, als traue der Komponist nicht der im Text verheißenen Zusage auf das „heilige Licht“ am Ende der Zeiten.

Mit dem Requiem von Joseph Martin Kraus in der Neuausgabe des Carus-Verlags bietet sich für kleinere bis mittlere Chöre eine wunderbare Möglichkeit, die ausgetretenen Repertoirepfade zu verlassen und ein außergewöhnliches Werk eines immer noch viel zu wenig bekannten Komponisten der Klassik zu entdecken. Die musikalischen Schwierigkeiten halten sich genauso in Grenzen wie der finanzielle Aufwand für die auf Streicher und zwei Hörner beschränkte Orchesterbegleitung.

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Aus dem Odenwald in die Welt

Nach dem ungeplanten, aber künstlerisch so ertragreichen Jahr im Elternhaus, setzte Joseph Martin Kraus sein Jurastudium in Göttingen fort, brach es aber ab und folgte einem schwedischen Kommilitonen in dessen Heimatland, wo er schließlich Kapellmeister des Königs wurde.

Falsche Anschuldigungen, zu Unrecht erlittene Demütigungen und der mühsame Kampf um bürokratische und juristische Gerechtigkeit, wie sie die Familie Kraus in den Jahren 1775 und 1776 erleben musste, schweißen nicht nur eine Familie noch enger zusammen, sondern lassen vielleicht auch in einem jungen begabten Menschen eine besondere Form von Selbstbewusstsein und trotzigem Stolz entstehen. Eigenschaften, ohne die Joseph Martin Kraus wohl nicht die Kraft gehabt hätte, sein Heimatland zu verlassen und sein Glück, gegen alle familiären Widerstände, in der Ferne zu suchen:

„Liebste Eltern!
Sie haben meine Meinung und dabei mich und mein Herz verkannt. Mein Herz ist stolz – ja, es ist stolz, und wäre es das nicht, so wollt‘ ichs zwischen die Knie nehmen und zu Brocken zerquetschen. – Stolz ist’s und bleibt’s – kein Unglück wird’s ändern; aber – nein, hochmütig ist es nicht. Ich weiß, was ich natürlicherweise von meinem Schicksal zu erwarten habe; ich weiß es, und auch überdies ist befehlen so wenig meine Sache als kriechen – und wenn ich’s weiß, für was erinnern Sie mich daran? Ich glaube nun einmal, daß unter einem fremden Himmel ein Glück mich erwartet, um das ich hier umsonst renne.–“


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