Rezension: Musiktheorie praxisnah

Analysemethoden anschaulich erlernen

von David Rauh (29.08.2022)

Es ist nicht immer leicht, Musiker für die manchmal trockene Theorie zu begeistern. Mit dem neuen Handbuch Musiktheorie praxisnah von Ute Ringhandt, in dem alle theoretischen Lerneinheiten an realen Musikbeispielen veranschaulicht werden, könnte sich das vielleicht ändern. Was die Neuerscheinung aus dem Schott-Verlag mitbringt und für wen sie sich lohnt, erfährst Du hier.

Überblick

Autorin: Ute Ringhandt
Verlag: Schott Music
Erscheinungsjahr: 2022
Ausgabe: Print / Download
Umfang: 492 Seiten
Geeignet für: Selbststudium, Einzel- oder Gruppenunterricht
Zielgruppe: Schüler, Studierende, Dozenten
Inhalt: Tonleitern, Intervalle, Metrum, Takt, Rhythmus, Akkorde, Stufen- & Funktionstheorie, Satzmodelle, Generalbass, Klauseln & Kadenzen, Modulation, Choralsatz, Fux-Kontrapunkt, Fugenlehre

Was bringt mir als Musikerin oder Musiker die Musiktheorie und wie hilft mir das Buch?

Ein gutes Verständnis von Musiktheorie kann helfen, der Interpretation eines Musikstücks eine gute Basis zu verleihen und die Argumentationsgrundlage für Deine musikalischen Entscheidungen bilden. Vielleicht fallen Dir erst bei der Analyse bestimmte Zusammenhänge zwischen einzelnen Noten, Harmoniefolgen oder Rhythmen auf, die Du dann hörbar machen kannst. Die Theorie kann auch helfen, das Spiel vom Blatt zu erleichtern, wenn Du die Funktionen hinter den Noten schneller erfassen kannst...

Musiktheorie praxisnah gibt allerlei etablierte Möglichkeiten an die Hand, sich der klassischen Musik analytisch zu nähern. Es werden sowohl die Basics wie Intervalle und Tonleitern als auch die Grundlagen der Rhythmus- und Harmonielehre vorgestellt.

Schwerpunkte sind die Funktionstheorie und die verschiedenen Regeln der melodischen Bewegung, die vor allem die Zeit vom 15. bis zum 19. Jahrhundert geprägt haben (z. B. zweistimmiger Kontrapunkt, vierstimmiger Choralsatz, Generalbass). Kein (guter) Komponist hält sich jedoch penibel an die Tonsatzregeln seiner Zeit. Ein Musikstück wird erst durch ‚Regelverstöße‘ besonders spannend. Diese in der eigenen Interpretation zu thematisieren, kann auch die Musiktheorie leisten.

Liegt Dein Interesse weniger in der Interpretation, sondern in der Komposition oder der Improvisation, so ist auch dafür die Musiktheorie eine wertvolle Begleiterin. Sie systematisiert die musikalischen Möglichkeiten, die Du in Deinen eigenen Stücken selbst nachahmen, neu zusammensetzen oder kontrastieren kannst. Besonders die Kapitel über Rhythmen, harmonische Satzmodelle und Choralsatz könnten Dich dabei interessieren.

Was ist das Besondere an diesem Buch?

Ute Ringhandt ist seit über 30 Jahren Dozentin für Musiktheorie und Musikwissenschaft an der Wiesbadener Musikakademie. Sie hat also viel Erfahrung in der Wissensvermittlung und ihre Musikbeispiele sind schon vielfach an ihren Schülern erprobt worden. Die zahlreichen Beispiele aus dem Repertoire klassischer Musik lassen die manchmal doch recht trockene Theorie plastischer wirken, weil sie ‚aus dem echten Leben‘ gegriffen sind.

Wer etwas Erfahrung im Klavierspiel mitbringt, kann die allermeisten Notenbeispiele direkt selbst zum Klingen bringen, denn auch Orchesterstücke werden zum einfacheren Nachspielen und Erfassen im Klavierauszug dargestellt. Das macht den Band besonders für Lehrkräfte interessant, die ihren Unterricht möglichst anschaulich gestalten möchten.

Einziger Wermutstropfen: Die meisten Notenbeispiele haben keine Taktangaben, was gerade bei Ausschnitten aus größeren Werken schade ist. Für Analysen bedeutsam ist schließlich auch die Verortung besonderer Ereignisse im Gesamtkontext.

Muss ich alles lesen und am Stück durcharbeiten?

Das Buch ist so konzipiert, dass man theoretisch überall einsteigen kann. Das funktioniert auch insofern, als ähnliche Konzepte mehrmals vorgestellt werden. Die für eine Schlussbildung typische Formel des Quartvorhalts etwa wird im Kapitel über Akkorde, die barocke Praxis des Generalbassspiels und die Erfindung einer Gegenstimme zu einer Melodie erklärt. Langweilig und redundant wird es aber nicht, weil sich die begleitenden Notenbeispiele unterscheiden. Sehr schön etwa: Die Kirchentonarten werden zu Beginn anhand von Volksliedern vorgestellt, weiter hinten im Buch noch einmal im Zusammenhang mit Kirchengesängen.

Der Vorteil ist: Auch Fortgeschrittene können durch die präzisen Zusammenfassungen und vor allem durch die ausführlich bezifferten Notenbeispiele auch bei den scheinbar einfachsten Phänomenen etwas mitnehmen. Der Nachteil ist: Teilweise wird Wissen vorausgesetzt, das noch gar nicht oder an anderer Stelle (und leider mit zu wenig Querverweisen) erklärt wird. Besonders auffällig ist das in den ersten Kapiteln. Zum Beispiel wird die Kenntnis der Intervalle im ersten Kapitel vorausgesetzt, wobei diese erst im nächsten Kapitel eingeführt und erklärt werden.

Ist das Buch auch zum schnellen Nachschlagen geeignet?

Als Nachschlagewerk ist das Buch perfekt. Wer Beispiele für ein bestimmtes Phänomen sucht, wird dank der ausführlichen und gut strukturierten Verzeichnisse schnell fündig. Die Mindmaps zu Beginn jedes Kapitels setzen die kommenden Lerninhalte anschaulich in Beziehung zueinander. Die Themen selbst werden kurz und bündig vorgestellt und treffend und verständlich definiert. Zum Beispiel ist der Kontrapunkt nach Johann Joseph Fux basierend auf seinem umfassenden Hauptwerk Gradus ad Parnassum hier auf wenige Seiten mit Musterbeispielen kondensiert. Auch wenn die Anordnung der theoretischen Prinzipien nicht nach ihren Entstehungszeiten erfolgt, findet man sich schnell zurecht.

Wer hat eventuell Schwierigkeiten mit dem Buch und wie kann man dem beikommen?

Wer bisher noch nicht nach Noten, sondern z. B. nach Gehör oder Tabs gespielt hat, muss entsprechende Grundlagen erst nachholen, denn die Autorin geht davon aus, dass man Notennamen und -werte kennt und alle Schlüssel lesen kann. Um sich in den ersten Kapiteln zurechtzufinden, sollte man musikalische Grundbegriffe wenigstens einmal gehört haben und vage einordnen können.

Wenn z. B. im Zusammenhang mit der ersten Vorstellung von übermäßigen Dreiklängen das komplette Notenbeispiel mit Stufen- und Funktionstheoriesymbolen versehen wird, würde man ohne entsprechendes Vorwissen damit solange nichts anfangen können, bis man zwei Kapitel später das Prinzip hinter den Symbolen erklärt bekommt. Man kann die Passage einfach überspringen, aber für wen die Musiktheorie noch Neuland ist, kann schwer die Relevanz beurteilen. Im schlimmsten Fall wird die musiktheoretische Reise entmutigt abgebrochen.

Für interessierte Anfänger empfiehlt es sich also, das Handbuch begleitend zum Unterricht zu verwenden, damit eine Lehrkraft einen geeigneten Weg durch das Buch vorschlagen und eventuell auftauchende Fragen direkt klären kann.

Ebenso kann es helfen, zusätzlich eine Allgemeine Musiklehre zur Hand zu haben, die komplett bei Null beginnt und darüber hinaus mehr Wissen über musikalische Formen oder Instrumentation vermittelt. Diese beiden Themen spielen bei Ringhandt nämlich nur eine untergeordnete Rolle. Wer dann noch tiefer in die Musiktheorie eintauchen möchte, kann punktuell die Literatur zurate ziehen, auf die sich Ringhandt bezieht.

Wer im Bereich der Popularmusik oder des Jazz beheimatet ist, wird sich schwertun, die richtigen Tools für sich herauszufinden. Die vorgestellten Konzepte wurden für die Analyse klassischer Musik entworfen. Die meisten davon lassen sich zwar in abgewandelter Form auf andere Stilrichtungen übertragen, doch fehlt dafür genau das Kernelement, das das Buch so auszeichnet: die Praxis.

Erst die Beispiele würden die Unterschiede zwischen den ähnlichen Konzepten der barocken „Stimmführung” und dem jazzigen „Voice Leading“ oder dem klassischen „Neapolitaner“ und der „Tritone Substitution“ aus dem Jazz deutlich machen. Die wenigen Verweise auf Blues und Jazz reichen für ein umfassendes Verständnis über die Charakteristika der Genres und ihrer gängigen Analysemethoden nicht aus. Hierzu empfiehlt sich also eher eine Jazz-Harmonielehre.

Davon abgesehen werden Musiktheorieinteressierte ihre Freude an den vielen Beispielen haben. Die, die es noch werden könnten, erhalten vielfältige Möglichkeiten, um einzusteigen. Vielleicht entflammt mit diesem neuen Handbuch auch in Dir das Feuer für Musikanalyse – wenn es nicht schon am Lodern ist. ;-)

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