Ulrike Theresia Wegele zählt zu den führenden Organistinnen ihrer Generation. Sie stammt aus Weingarten in Baden-Württemberg, lehrt in Graz und Eisenstadt und lebt in Wien, wo sie beim Traditionsverlag Doblinger ihre beliebte Orgelschule mit Hand und Fuß veröffentlichte. Lesen Sie hier wie ihr Weg zur Organistin am „Blut-Freitag“ seinen Anfang fing, wie ihre Aufnahmeprüfung ungewollt spannend wurde, welche Orgelliteratur und Noten ihr am Herzen liegen und wie das Internet ihrer Meinung nach die Musik- & Notenwelt verändert.
Die weltweit geschätzte Organistin Ulrike Theresia Wegele spricht über Ihre beliebte „Orgelschule mit Hand und Fuß“, die in drei Bänden die Grundlagen bietet, um sämtliche Orgelliteratur zu erarbeiten. Erfahren Sie, wie vielseitig und spannend die Lehrbücher aufgebaut sind, warum es ohne Einhörner, Ritter und Feen auskommt, und welche ganz persönlichen Beweggründe zu ihrem Lebenswerk geführt haben.
weiterlesenIn meinem Elternhaus stand immer schon ein Klavier und ich durfte bereits mit fünf Jahren mit dem Unterricht beginnen. Die Liebe zur Orgel entdeckte ich mit sechs Jahren. In meiner Heimatstadt Weingarten findet alljährlich am Freitag nach Christi Himmelfahrt die größte Reiterprozession Europas statt. In der Früh um sechs Uhr findet an diesem so genannten ‚Blut-Freitag‘ eine Festmesse in der Basilika statt. Ich war noch nicht ganz sechs Jahre alt, als mein Großvater mich zum ersten Mal mitgenommen hat.
Als die Messfeier mit einem Orgelpräludium eröffnet wurde und ich die berühmte Orgel von Joseph Gabler zum ersten Mal hörte, verliebte ich mich sofort in dieses Instrument und verbrachte – sehr zum Leidwesen meines Großvaters – den Rest der Messfeier mit dem Rücken zum Altar und den Blick auf diesen einzigartigen Prospekt gerichtet. Ich musste zwei Jahre warten, bis meine Beine lang genug waren, um gerade so mit den Fußspitzen die Pedaltasten zu erreichen. Meine Mutter konstruierte für mich eine Art Gurt, der verhinderte, dass ich von der Orgelbank abrutschte.
Die jahrhundertalte Tradition der größten Reiterprozession Europas in Weingarten. (Joseph Bayer - 1865)
Bereits mit zwölf Jahren stand mein Berufswunsch fest: Ich wollte Organistin werden. In diesem Alter habe ich auch meine ersten Schüler auf der Blockflöte unterrichtet. Mit fünfzehn hatte ich meine ersten Orgelschüler. Es war mir schnell klar, dass Unterrichten meine wahre Leidenschaft ist.
Mein Orgellehrer während der Gymnasialzeit empfahl mir, mich an der Musikhochschule in Stuttgart bei Ludger Lohmann zu bewerben, sagte mir aber nicht, dass es üblich sei, dem Wunschlehrer vor der Aufnahmeprüfung einmal vorzuspielen. Auch wusste ich nicht, dass eine Improvisation und ein Gehörbildungstest verlangt wurden. Es waren damals 62 Bewerber für nur zwei freie Studienplätze. Bei dem Gehörbildungstest hatte ich vielleicht eine Trefferquote von 10%, hatte ich doch nie ein zweistimmiges Notendiktat zuvor gemacht. Beim Vorsingen wurden mir – mangels Wissens meinerseits – zwei Lieder vorgelegt, die ich vom Blatt gesungen habe.
Als es an das Orgelvorspiel ging, wurde ich von einem sehr jungen, großen, blonden Mann in den Orgelsaal gebeten, der auch als Registrant fungierte. Ich begann mit Johann Sebastian Bachs Präludium h-Moll BWV 544 und registrierte es in organo pleno. Der Assistent schritt ein und entfernte die Mixtur und das Pedal Zungenregister mit den Worten: „Die Professoren mögen es nicht so laut.“ Ich widersprach: „Aber so gehört das registriert“, und zog die Register wieder dazu.
Ähnlich ging es mir bei meinem zweiten Vorspielstück, Cesar Francks Choral in a-Moll, auch hier wollte der adrette junge Mann eingreifen. Da musste ich etwas schärfer agieren und ihm mitteilen, dass dies meine Aufnahmeprüfung sei und ich die Registrierung wie vom Komponisten vorgesehen ausführen werde.
Als ich mich nach dem Vorspiel von den Professoren der Jury verabschiedet hatte und den Orgelsaal verließ, wurde ich von einer Mitbewerberin vor der Türe empfangen. Sie fragte gleich, ob mir auch Ludger Lohmann registriert habe. Ich erwiderte: „Nein, irgend so ein junger Student, der mir in die Registrierungen reinpfuschen wollte.“ Sie fragte nach, ob er groß, schlank und blond mit Brille wäre? Ich musste zugeben, dass die Beschreibung passte. „Das ist Ludger Lohmann!“
Ich ärgerte mich maßlos über mich und dachte, dass ich zu hundert Prozent nicht genommen würde. Als vierzehn Tage später der Brief von der Musikhochschule eintraf, darin zu lesen war, dass ich den Gehörbildungstest nach einem Semester zu wiederholen habe, ansonsten aber mit der vollen Punktzahl bewertet wurde und dem Professor Lohmann zugeteilt würde, konnte ich mein Glück kaum fassen.
Obwohl ich – wegen der breiten Ausbildungspalette – Kirchenmusik und Konzertfach studiert habe, war mir schon früh klar, dass ich nicht als Kirchenmusikerin arbeiten möchte. Mein Wunsch, zu unterrichten, war nicht verflogen. Rein aus Interesse habe ich mich schon während des Studiums an der Wiener Musikhochschule für einen Lehrauftrag an der Grazer Musikhochschule beworben. Wider Erwarten habe ich den Lehrauftrag erhalten und bin in geänderter Funktion bis heute dort.
Mein Beruf ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Das Unterrichten macht viel Freude, durch das Konzertieren lernt man nicht nur besondere Orgeln und Menschen, sondern natürlich auch interessante Städte kennen. Meisterkurse, Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen halte ich nach wie vor sehr gerne, da es zu immer neuen Begegnungen und Eindrücken kommt.
Wenn es möglich wäre, würde ich gerne einige Zeit als Schülerin bei Johann Sebastian Bach in die Lehre gehen. Ich habe mich viel mit der Unterrichtsmethodik von Johann Sebastian Bach auseinandergesetzt und darüber auch einen Vortrag verfasst. Einiges lässt sich klar belegen, manch anderes kann man sich zusammenreimen, aber vieles bleibt reine Spekulation. Ich hätte sehr viele Fragen. und würde gerne seine Art des Unterrichts erleben.
Ein Lieblingsstück gibt es nicht für mich. Ich mag natürlich sehr viel von Johann Sebastian Bach, aber ich spiele auch sehr gerne norddeutsche Orgelmeister wie Dietrich Buxtehude, Nicolaus Bruhns oder Georg Böhm. Ich mag die Musik des Rokoko, die Musik der Söhne und Schüler von J. S. Bach genauso wie die Orgelwerke von Cesar Franck, Felix Mendelssohn, Johannes Brahms oder Robert Schumann. Ich mag Jehan Alain und vieles von Naji Hakim, ich mag sehr viel.
Das Internet hat die Musikwelt sehr verändert. Oft kommen Studierende mit schlechten Ausgaben, die sie irgendwo gratis heruntergeladen haben, zu mir. Für mich sind gute, sich am Autograph haltende Ausgaben (Stichwort: Urtextausgabe) sehr wichtig. Generell ist das Internet für Forschung und Studium ein Segen, mit wenig Aufwand kann man Autographe an entlegenen Bibliotheken einsehen.
Ich selbst spiele nach wie vor sehr konventionell aus meinen Notenbänden, und das werde ich auch bis zu meinem Ruhestand weiterführen. Von meinen Studierenden aber spielt bereits der Großteil von Laptops oder iPads. Meine Generation hat noch ganz selbstverständlich Taschen voller Noten und Fachbücher geschleppt.
Eine liebste Notenausgabe habe ich nicht, aber die im Faksimile erhältlichen Ausgaben von Johann Sebastian Bach wie z. B. das Orgelbüchlein, die 18 Choräle u. a. sehe ich mir immer wieder sehr gerne an, auch Faksimiles anderer Komponistinnen und Komponisten.
Das erste Notenheft, das ich bekommen habe, war das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach. Die ersten Noten, die ich mir selbst gekauft habe, waren die Präludien und Toccaten von Dietrich Buxtehude, von denen ich nun die Broude Trust-Ausgabe von Belotti sehr schätze.
Ich glaube, jede und jeder Musikmachende muss für sich entdecken, welcher Ausgleich ihr oder ihm gut tut. Für mich ist das jedenfalls die Bewegung an der frischen Luft. Ich betreibe regelmäßig Nordic Walking, das tut mir gut. Generell liebe ich es, draußen zu sein, im Grünen, am Meer oder in den Bergen.
Einen unerfüllten Traum als Künstlerin habe ich nicht. Vielleicht schreibe ich irgendwann doch größere Orgelwerke, Ideen habe ich genug. Vielleicht gibt es auch noch ein zweites Pedalbuch, die Nachfrage wäre da. Momentan schreibe ich in meiner Freizeit an einem Roman, der gar nichts mit dem Orgel spielen zu tun hat., eine andere Form der Kreativität, aber auch sehr freudvoll.
Redakteur: Florian Boberski
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