von David Rauh (25.11.2020)
2020 neigt sich seinem Ende zu. In der Musikwelt wurde das Jahr vor allem durch den 250. Geburtstag des Komponisten Ludwig van Beethoven geprägt. Aber 2020 bot noch viele weitere Möglichkeiten zum Gedenken an wegweisende Persönlichkeiten und Ereignisse. Fünf davon werden hier vorgestellt. Doch obwohl die Auswahl so vielfältig scheint, lassen sich alle auf irgendeine Weise mit Beethoven in Verbindung bringen.
Den Musikverlag Schott verbindet mit Beethoven nicht nur das Gründungs- bzw. Geburtsjahr 1770. Schon 1791 wurde ein erstes Werk – seine 24 Variations sur l’Ariette Venni Amore par Righini WoO 65 – vom Verlagsgründer Bernhard Schott veröffentlicht.
Weitere Kooperationen blieben aber zunächst aus, weil Beethoven nach seinem Umzug nach Wien 1792 seine Werke bevorzugt lokalen Verlagen anbot. Doch je mehr er sich einen Namen als Komponist gemacht hatte, desto häufiger fragten auswärtige Verlage wie Simrock (damals in Bonn) oder Breitkopf & Härtel (damals in Leipzig) bei ihm an. Trotz gelungener Zusammenarbeit zerstritt sich Beethoven aber mit vielen seiner Partner.
Schott gründete 1824 Cäcilia – eine Zeitschrift für die musikalische Welt, die rasch den öffentlichen Diskurs in der Musikwelt mitbestimmte. Im Vorfeld wurden Rundschreiben mit der Bitte um Beiträge verschickt, woraufhin Beethoven wieder auf den Musikverlag aus Mainz aufmerksam wurde. In Folge wurden dort unter anderem zwei der bedeutendsten Werke aus dem Spätwerk Beethovens verlegt, die 9. Sinfonie (1826) und die Missa solemnis (1827).
Jedoch war auch die zumeist vertrauensvolle Beziehung zum Schott-Erben Johann Joseph zwischenzeitlich angespannt. Der Verleger hegte mehrfach Zweifel, ob Beethoven die zugesagten Werke nicht doch noch anderen Verlagen angeboten hatte. Zudem hatte er Ausschnitte aus Briefen des Komponisten ungefragt in der Cäcilia veröffentlicht. Die Verstimmung Beethovens kulminierte in folgenden Briefzeilen:
„Sie verlangen neuerdings Werke von mir?
Beste!!
Ihr habt mich gröblich beleidigt!
Ihr habt mehrere falsa begangen!
Ihr habt euch daher erst zu reinigen vor meinem Richterstuhl allhier; sobald das Eis aufthauen wird, hat sich Maynz hieher zu begeben, auch der recensirende Ober-Appellations-Rath [Gottfried Weber] hat hier zu erscheinen, um Rechenschaft zu geben und hie gehabt euch wohl!“
Der darauffolgende Versöhnungsbrief von Schott ist nicht überliefert, aber dafür eine Notiz von Beethovens Neffen Karl in einem Konversationsheft: „Im letzten Brief reichen sie die Hände zur Versöhnung, bitten aber gleich, in diese Hände Werke zu legen.“ So erschien auch das neue Streichquartett cis-Moll op. 131 bei Schott.
Heute ist Schott Music mit rund 200 beschäftigten Mitarbeitern, weiteren Firmensitzen in Europa, Asien und Nordamerika sowie zwei Plattenlabels nach wie vor einer der wichtigsten Musikverlage der Welt, der die neuesten Entwicklungen der Musik stets im Blick behält. Zu seinem Jubiläum hat der Verlag seine Archivschätze gesichtet und blickt so, in einer Reihe für verschiedene Soloinstrumente, The Joy of Music, auf seine reiche Geschichte zurück. Diese kann man sich mit Hilfe eines Zeitstrahls detailliert und anschaulich auf der Schott-Website 250 Jahre Joy of Music vergegenwärtigen.
Am 13. August 1820 wurde George Grove geboren, der den Grundstein legte für das bedeutendste englischsprachige Nachschlagewerk der Musik, das heute in keiner Musikbibliothek fehlen darf: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Natürlich ist in solch einer Enzyklopädie auch ein ausführlicher Artikel über Beethoven zu finden. In der aktuellen Ausgabe umfasst er inklusive aller Verzeichnisse 68 Seiten!
Aber bis zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Lexikons hatte Grove schon ein ereignisreiches Leben hinter sich: Trotz seines großen Interesses an Musik ließ er sich als Bauingenieur ausbilden. Sein letztes und größtes Projekt in diesem Metier war der Bau der Britannia Bridge in Wales zwischen 1846 und 1850.
Seine geschätzten Kollegen „zwangen“ ihn laut eigener Aussage dazu, seiner Passion Musik zu folgen und im Jahr 1849, noch vor der Fertigstellung der Brücke, als Sekretär zunächst für die Londoner Society of Arts und kurz darauf für den Crystal Palace zu arbeiten. Bis 1873 bestimmte er so das Musikleben der britischen Hauptstadt mit, indem er Musiker engagierte, tägliche und wöchentliche Konzerte organisierte und Programmhefte schrieb:
„I wish it to be distinctly understood, that I have always been a mere amateur in music. I wrote about the symphonies and concertos because I wished to try to make them clear to myself and to discover the secret of the things that charmed me so; and from that sprang a wish to make other amateurs see it in the same way.“ – Übersetzung
Dieser Wissensdurst und der Anspruch, dieses Wissen für alle verständlich zu machen, waren auch ausschlaggebend für Groves großes Vermächtnis, A Dictionary of Music and Musicians (A.D. 1450-1888): Zwischen 1873 und 1889 arbeitete Grove an seiner Enzyklopädie, die schlussendlich vier Bände mit insgesamt 3125 Seiten umfasste. Es sollten nach seinem Tod Neuauflagen in immer größeren Dimensionen folgen, sodass die aktuelle Ausgabe von 2001 nun insgesamt 29 Bände zählt. Die Enzyklopädie ist seither auch online erhältlich – der komplette Artikel über Beethoven ist dazu für alle frei verfügbar!
Johannes Brahms schrieb 1858 an den Geiger Carl Bargheer: „Ach, Gott, wenn man wagt, nach Beethoven noch Sinfonien zu schreiben, so müssten sie ganz anders aussehen!“ Brahms arbeitete ganze 14 Jahre lang an seiner Ersten, um seiner Vorstellung einer Sinfonie nach Beethoven gerecht zu werden: So schwer lastete das Erbe Beethovens auf den Komponisten der ihm nachfolgenden Generationen. Im späten 19. Jahrhunderts entstand vor allem in Frankreich eine eigene Art der Sinfonie: Symphonie pour orgue (Orgelsinfonie), für die Charles-Marie Widor und sein Schüler Louis Vierne den größten Beitrag geleistet haben.
Der Name mag zunächst wie ein Widerspruch in sich wirken, denn die Sinfonie ist eigentlich ein Werk für Orchester, das sich in der Romantik durch immer gößere Orchesterapparate auszeichnet. Ein mehrsätziges Werk für ein Soloinstrument dagegen nennt man Sonate. Vor allem in der deutschen Tradition wird daher der Begriff Sonate für Orgel bevorzugt, etwa bei Felix Mendelssohn Bartholdys Sechs Sonaten op. 65 oder Max Regers beiden Orgelsonaten.
Einen Grund für die Bezeichnung Orgelsinfonie liefert die Bauart der französischen Orgeln im 19. Jahrhundert, deren Klangfarbenreichtum einem Sinfonieorchester nahekommt. Louis Vierne, der von 1900 bis zu seinem Tod Titularorganist der Pariser Kathedrale Notre-Dame war, hatte Zugang zu einer der größten und damit farbenreichsten Orgeln seiner Zeit, über deren Klang er begeistert in Mes Souvenirs schreibt:
„Quelle noblesse! Quelle intensité! Quelle fraîcheur aussi dans les timbres de chaque jeu.“ – Übersetzung
Viernes sechs Orgelsinfonien sind Ausdruck dieser Begeisterung. Zur Feier seines 150. Geburtstags wurden und werden dieses und nächstes Jahr an vielen Orten Viernes Orgelsinfonien oder sein gesamtes Orgelwerk gespielt, darunter in Köln oder Trier.
In der Wochenzeitung Die Zeit nennt Stefan Hentz den Altsaxophonisten Charlie Parker den „Beethoven des Jazz” – doch wie viel ist an der Aussage dran? Charlie Parker gehört zu den Begründern des Bebop. Ebenso wie Beethoven war Parker ein Musiker, der sich über die Grenzen des vorherrschenden Stils hinwegsetzte und entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung der Musik setzte:
„They teach you that music has boundaries. But, man, there's no boundary line to art.” – Übersetzung
Beethovens Werke setzten neue Standards in der Behandlung der Form (seine 3. Sinfonie dauert doppelt so lang wie eine Haydn- oder Mozart-Sinfonie), sprengen die Grenzen der Gattungen (siehe den Einbezug von Singstimmen und Chor in der 9. Sinfonie) und geben, wie die späten Streichquartette, bis heute Rätsel auf.
Parker brach in den New Yorker Jamsessions mit seinen Kollegen die Form des weitgehend durchkomponierten Swing auf und legte den Fokus auf Improvisation. Tonal wurden die zugrundeliegenden Melodien mit der chromatischen Skala aufgefüllt, was die Grundlage der komplexeren Tonsprache des Bebop bildet. Zwischen Parkers Auftritten mit seiner ersten Bebop-Combo 1945 und seinem Tod liegen zwar nur zehn Jahre, aber sein Einfluss ist heute noch im modernen Jazz zu hören.
Zum Jubiläum erschien mit Charlie Parker – The Complete Scores ein Sammelband von 40 Transkriptionen seiner Stücke.
Das erste Rockkonzert in der Stuttgarter Geschichte gab Jimi Hendrix am 19. Januar 1969 – ausgerechnet im Beethovensaal der Liederhalle! Die Karten waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Das kannte man bis dato nur von den größten Dirigenten und Orchestern der Zeit. Kurzerhand wurde deshalb noch ein zweites Konzert für denselben Tag organisiert – für Hendrix, der am liebsten einfach nur Gitarre spielen wollte, kein Problem.
Trotz seiner kurzen Karriere schaffte es Hendrix mit seinen Bands – The Jimi Hendrix Experience und Band of Gypsys – die Rockwelt zu revolutionieren, indem er mit dem geschickten Einsatz der Technik der Zeit alle vorstellbaren und unvorstellbaren Klänge aus seiner E-Gitarre und den voll aufgedrehten Verstärkern herausholte. Am eindrucksvollsten zeigt sich sein Individualstil in seiner Version der amerikanischen Nationalhymne, die er als Kritik am Vietnamkrieg akustisch ‚zerbombt‘.
Zum Klangerlebnis trat noch eine legendär gewordene visuelle Komponente hinzu. Gitarrist Andy Goldner erinnert sich an seine Hendrix-Erfahrung in Stuttgart:
„Wie das schon optisch aussah, wie er mit der Gitarre umgeht oder die Gitarre mit ihm, wie die ständig um ihn rumgekreist ist oder hinten, vorne, oben, unten. [...] Bei ihm war das komplett organisch. Beim Hendrix, das war in diesem Sinn gar keine Show. Das war eins, ein Urerlebnis. Das hat einfach gestimmt. Da war nichts aufgesetzt.”
Über den Sinn und Unsinn, Musikgeschichte entlang von Gedenktagen zu erzählen, lässt sich genauso streiten wie über die Fixierung des Musikbetriebs auf die großen Komponisten- und Musikerjubiläen. Der hier vorgenommene, vielleicht stur anmutende Versuch, im Abstand von jeweils 50 Jahren Probebohrungen in der Musikgeschichte vorzunehmen, hat einen Verlagsgründer, einen Lexikonautor, einen Komponisten romantischer Orgelmusik, einen Pionier des Modern Jazz und einen Revolutionär des Rock zu Tage befördert. Auf geradezu gespenstische Weise aber bleibt Beethoven irgendwie präsent: Zum einen als (blind?) verehrte Ikone des Musiklebens, nach der Säle benannt werden, über die viele Worte verloren werden und deren Person man zu verstehen glaubt, zum anderen als Inspirations- und Reizfigur, von dessen Werken Musiker bis heute sich inspirieren lassen, von der sie sich absetzen und mit der sie sich vergleichen lassen müssen. Die weitgehende Stilllegung des Kulturlebens durch Covid-19 hat das als nationales Event geplante Beethoven-Jahr weitgehend ausgebremst und ins Digitale verlagert. So gewinnt man aber auch Zeit und Muße, den Blick zu weiten, auch über den eigenen Musikgeschmack hinaus.
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zu Stretta Music Weltweit wechseln auf Stretta Music Schweiz bleiben„Ich möchte klar und deutlich zu verstehen geben, dass ich in der Musik immer nur ein Amateur gewesen bin. Ich habe über die Sinfonien und Konzerte geschrieben, weil ich versuchen wollte, sie mir selbst klar werden zu lassen und das Geheimnis der Dinge zu entdecken, die mich so bezauberten; und daraus entstand der Wunsch, andere Amateure dazu zu bringen, es auch zu erkennen.“